Eine fromme und hochgebildete Autorität
David Kahane Spiro wurde 1901 im polnischen Ksiaz Wielki in eine orthodoxe jüdische Familie hineingeboren. Schon früh kam er in Kontakt mit der chassidischen Ausprägung des Judentums, sowohl sein Großvater Mosche Nathan Spiro wie auch sein Onkel Samuel Bornstein waren Rabbiner. So war es David Spiro in die Wiege gelegt, dass auch er sich dem Studium von Talmud und Thora widmete. Nach Abschluss seiner Ausbildung heiratete er die Tochter des Warschauer Rabbiners Chaim Jehoschua Gutschächter und erhielt 1936 den Ruf, als jüngstes Mitglied dem Warschauer Rabbinat beizutreten.
Nach dem Überfall der Deutschen auf Polen und der Einrichtung des Ghettos in Warschau wurde David Spiro in den sogenannten Judenrat berufen, dem er bis zur Liquidierung des Ghettos im April 1943 angehörte. Er überlebte zahlreiche Konzentrationslager und wurde im Frühjahr 1945 schwer krank im KZ Dachau befreit, wo ihn sein Bruder Abraham, als einzigen Überlebenden seiner großen Familie, mehr tot als lebendig fand. Abraham Spiro hatte ebenfalls eine Rabbinerausbildung durchlaufen und in den 1930er Jahren ein Stipendium am Jewish Theological Seminary in New York erhalten. Nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg diente Abraham Spiro als Chaplain in der amerikanischen Armee und nahm an der Landung der US-Truppen in der Normandie teil. Seine seelsorgerischen Aufgaben führten ihn nach Bayern. Da Abraham Spiro in der Region Nürnberg stationiert wurde und David in der Nähe seines Bruders sein wollte, zog es ihn nach Fürth. In der fränkischen Stadt war schon im Sommer 1945 ein großes Lager für jüdische Displaced Persons eingerichtet worden und es bildete sich zudem eine städtische jüdische Gemeinde. Als charismatische Persönlichkeit und bedeutender Vertreter des orthodoxen Judentums wurde David Spiro zum spirituellen Führer der vielen Hundert in Fürth lebenden Juden. Der Rabbiner widmete sich ausführlich dem Studium der Thora und seine Tür stand allen offen, die den Wunsch hatten, es ihm gleich zu tun. „Ich werde es nie vergessen, als ich ihn zum ersten Mal traf“, erinnert sich ein Zeitzeuge, „mit einer wohltuenden Freundlichkeit, die uns aus dem grausamen Alltag in eine andere Welt herüberzog, die unsere verdorrten Knochen mit Leben erfüllten, sagte er: ‚Juden, lasst uns ein bisschen lernen.‘“ Ehemalige Schüler berichten, dass Spiro sich bis zu 20 (!) Stunden täglich mit den heiligen Schriften auseinandergesetzt haben soll.
In Fürth kam es zu einer einzigartigen Wiedergeburt des nahezu vernichteten religiösen jüdischen Lebens. Bald entdeckte Spiro ein jüdisches Ritualbad im Keller des Gebäudes, in dem er residierte und lehrte. Er gründete koschere Küchen, eine im DP-Lager sowie eine in der Stadt, sodass bis zu 200 Gläubige gemäß der Kaschrut (Speisevorschriften) versorgt werden konnten. Regelmäßige Gottesdienste in der Synagoge der ehemaligen Waisenschule und religiöse Lehrstunden fanden statt; Spiros Interpretationen der Schrift bestärkten die Überlebenden der Shoa, neuen Lebensmut zu schöpfen. Für viele seiner Anhänger, nicht nur in Deutschland, war er Lehrer und Vaterfigur zugleich, dem sie mit äußerster Hochachtung begegneten. Spiro gelang es, Fürth zu einem Zentrum der Orthodoxie im Nachkriegsdeutschland zu machen. Insbesondere seine Kompetenz hinsichtlich Scheidungen und Eheschließungen wurde oft nachgefragt. Manchmal waren Braut oder Bräutigam verheiratet, hatten ihren Partner jedoch in der Shoa verloren. Dann musste der Nachweis über den Tod des Lebensgefährten erbracht werden. Oft verfügten die Ehewilligen jedoch nicht über die entsprechenden Dokumente und etwaige Zeugen lebten nicht mehr. Aufgrund seines umfassenden halachischen Wissens galt Spiro lange Zeit als einer der wenigen orthodoxen Rabbiner, die solche schwierigen Ehescheidungen nach jüdischem Ritus durchführten. Mit Beschluss der Rabbinerkonferenz im Jahr Sommer 1946 wurde David Spiro sogar offiziell mit diesen Angelegenheiten betraut. Auf Initiative des Rabbiners eröffneten auch zwei Talmud-Thora-Schulen in Fürth: In der städtischen Religionsschule für Jungen wurden im Jahr 1947 zwölf, im Camp-Cheder 15 Schüler unterrichtet. Besonderen Respekt zollte die orthodoxe jüdische Welt in Deutschland David Spiro, indem sie die Gründungsversammlung der „Vereinigung für Thoratreues Judentum“ im Oktober 1954 nach Fürth einberief. Die Tagung, an der prominente Vertreter der Orthodoxie aus ganz Deutschland teilnahmen, wurde am 31. Oktober 1954 mit einer Ansprache von Rabbiner Spiro feierlich eröffnet und unterstand seiner Schirmherrschaft. Man kam überein, dass „den in Deutschland lebenden Juden nach den Jahren der Vernichtung und Vertreibung ein Leben im Geist der Tradition“ zu ermöglichen sei, wobei „das Gesetz der Thora allein verbindlich (unabänderlich)“ als Grundlage zu gelten habe. Über den Gründungskongress hinaus sind jedoch keine weiteren Aktivitäten der Vereinigung bekannt. Es ist davon auszugehen, dass die Organisation nie ihre Arbeit aufgenommen hat. Trotz aller Anstrengungen sah der Rabbiner für sich und seine Gemeinde keine Zukunft in Deutschland. Als das DP-Camp im Sommer 1949 geschlossen wurde, die Mehrheit der Bewohner nach Israel oder Übersee emigrierte, regte Spiro an, dass auch die jüdische Gemeinde Fürth nach Israel übersiedeln sollte, da die Mitgliederzahlen deutlich zurückgingen. Auch die Koschere Küche klagte über sinkende Besucherzahlen: „Die Gemeinde ist am Bestehen dieser idealen Einrichtung sehr interessiert; sie ist eine unbedingte Notwendigkeit für unsere Stadt. Umso unbegreiflicher ist es, dass die Küche heute so einen mangelhaften Besuch aufweist und viele unserer Leute, die nicht zuhause essen können, lieber andere Gaststätten aufsuchen“, war im Gemeindeblatt zu lesen. Obwohl in Anerkennung seiner großen Verdienste die Fürther Juden ihrem Rabbiner das Geld für einen Betsaal und eine Wohnung in Israel zur Verfügung stellen wollten, kam es nicht zur Übersiedlung der Gemeinde. Auch David Spiro blieb in Fürth. Erst Mitte der 1960er Jahre initiierten Emigranten in Zusammenarbeit mit David Spiro die Gründung einer Talmudhochschule in der israelischen Stadt Bnei Brak; diese Jeschiwa mit dem Namen Beit David besteht heute noch. Als Rabbiner Spiro unheilbar erkrankte, wurde er auf seinen Wunsch, da er nicht im Galut (Diaspora) sterben wollte, nach Israel gebracht. Er verstarb am 17. Oktober 1970 in Jerusalem.
Quellen
Archive
- YIVO Institute for Jewish Research, New York
Leo W. Schwarz Papers / Displaced Persons Centers and Camps in Germany - Archiv Jüdisches Museum Franken, Fürth
Nachlass Jean Mandel
Literatur
- Monika Berthold-Hilpert, Die frühe Nachkriegsgeschichte der jüdischen Gemeinde Fürth (1945-54) in: Julius H. Schoeps (Hg.), Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 1998
- Dies., Der Wiederaufbau der Jüdischen Gemeinde Fürth nach 1945, in: Julius H. Schoeps (Hg.), Leben im Land der Täter. Juden im Nachkriegsdeutschland 1945–1952, Berlin 2001
- Esther Farbstein, Hidden in Thunder. Perspectives on Faith, Halachah and Leadership during the Holocaust, Jerusalem 2007
- Peter Honigmann, Die Gründung der „Vereinigung für Thoratreues Judentum“ 1954 in Fürth, in: Nachrichten für den jüdischen Bürger Fürths (NJBF), 1994
- Jim G. Tobias, Vorübergehende Heimat im Land der Täter. Jüdische DP-Camps in Franken 1945–1949, Nürnberg 2002
- Michael Trüger, Rabbiner David Spiro sel. A., in: Jüdisches Leben in Bayern. Mitteilungsblatt des Landesverbandes der israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, Nr. 106 (April 2008)