Jüdisch-katholische Koexistenz in Oberbayern 1945–48
In der Nähe von Landsberg am Lech eröffnete im Frühjahr 1945 im Benediktinerkloster St. Ottilien die erste jüdische Klinik im Nachkriegsdeutschland. Am 29. April 1945 hatte der in Litauen geborene jüdische Arzt Dr. Zalman Grinberg rund 500 Überlebende eines Todesmarsches dorthin geführt. Die von einem deutschen Fliegerangriff teilweise schwer verletzten Menschen litten zudem an Infektionskrankheiten. Das Kloster hatte schon während des Krieges als Lazarett gedient und beherbergte zu dieser Zeit noch verwundete deutsche Soldaten. Auf Anordnung der US-Militärverwaltung wurde das Kloster beschlagnahmt und Grinberg als neuer Leiter des Krankenhauses eingesetzt, wobei die Mönche weiterhin einen Teil der Anlage bewohnten durften. Die nichtjüdischen Patienten wurden in andere Kliniken verlegt. Wegen seines unermüdlichen Einsatzes gelang es dem litauischen Arzt in nur kurzer Zeit, ein funktionierendes Hospital aufzubauen. Eine große Hilfe war dabei US-Feldrabbiner Abraham J. Klausner, der mit seiner Einheit an der Befreiung des KZ Dachau beteiligt war und sich dafür einsetzte, kranke und verletzte Juden aus Dachau und den umliegenden Lagern nach St. Ottilien zu bringen.
Unter den befreiten Juden befanden sich auch die orthodoxen Rabbiner Samuel J. Rose und Samuel A. Snieg aus Kowno. Snieg wurde im Herbst 1945 zum Vorsitzenden eines rabbinischen Rates (Agudath Harabanim) gewählt. Beide Rabbiner waren Überlebende aus dem Konzentrationslager Dachau. Kurz nach Ankunft der ehemaligen Dachau-Häftlinge versammelten sich alle Gläubigen zum gemeinsamen Gebet: „Erst dadurch waren wir voll und ganz, im Sinne des Wortes davon überzeugt, dass wir wirklich frei waren“, berichtet Samuel Rose. Einige wenige Juden hatten Gebetsriemen dabei, einem war es sogar gelungen, eine Miniatur-Thorarolle, trotz des großen Risikos, im Konzentrationslager zu verstecken. „Niemand verstand, wie er das in Dachau bewerkstelligen konnte“, erinnert sich Rose. Diese Thora-Rolle kam nun in St. Ottilien zum Einsatz. „Wir, die wenigen Übriggebliebenen, die nun ins Leben zurückkehrten, können nun gemäß unserer Gebote öffentlich beten.“ Gleichzeitig wuchs der Wunsch nach talmudischer Literatur, denn den Überlebenden stellten sich viele theologische Fragen: „Gibt es einen Sinn im Leben – und was bedeutet der Begriff ,Befreiung‘, wenn wir nicht die Möglichkeit haben, die Thora zu studieren?“
In der ersten Zeit fehlte es an allem. Es gab keine Gebetbücher, nur vereinzelt Gebetschals oder -riemen, keine Schabbatkerzen und keine Kippot. Man musste eben improvisieren, wie die Physiotherapeutin Erika Grube, die ab 1945 in St. Ottilien tätig war, in ihren Erinnerungen an den ersten Gottesdienst eindrücklich dokumentiert: „Die meisten trugen noch die gestreifte KZ-Kleidung. Es waren auch Rabbiner unter den Patienten. So stand ein Vorbeter, mit einem weißen quadratischen Tuch um die Schultern gelegt vor der Menge; die meisten hatten sich auch weiße Tücher um die Schulter gelegt und das Haupt mit KZ-Mützen oder Hüten bedeckt. Sie bewegten sich schaukelnd im Rhythmus ihrer Lieder, und jeder sang vor sich hin, mit solcher inbrünstiger Begeisterung, dass wir tief ergriffen waren.“
Für eine nicht zu übersehende Minderheit war es ein elementares Bedürfnis, die religiösen Vorschriften wieder einzuhalten, die vor der Entrechtung durch das NS-System selbstverständlich zu ihrem Alltag gehörten. Dazu benötigten sie eben auch Ritualien, die ihnen neben ihrer religiösen Funktion gleichfalls als Ausdruck der jüdischen Identität dienten.
Die US-amerikanischen Hilfsorganisationen Joint und der Vaad Hatzala unterstützen die Juden bei ihren Bemühungen, ein religiöses Leben nach den Buchstaben der Thora auszuüben. Mit ihrer Hilfe konnte bald eine kleine Synagoge eingerichtet werden; die Eröffnung einer koscheren Küche folgte, in der Mahlzeiten nach den Gesetzen der Kaschrut angeboten wurden. Nach den Erinnerungen des Auschwitz-Überlebenden und späteren Rabbiner Eli Fishman soll es auf Initiative von Samuel Snieg in St. Ottilien zeitweise sogar eine kleine Jeschiwa gegeben haben. Auch Judah Nadich, „US Special Consultant on Jewish Problems“, erwähnt in einem Bericht, dass in St. Ottilien eine Jeschiwa existiert habe. Spätestens ab Sommer 1947 ist darüber hinaus ein Cheder im Kloster nachweisbar, in der Rabbiner Weiclowski eine kleine Gruppe von 20 strenggläubigen Jungen in die Grundlagen der jüdischen Religion einführte. Immer wieder stellte der Vaad Hatzala Ritualien und religiöse Texte für die Religionsschulen zur Verfügung. Im Sommer 1947 erreichte beispielsweise eine Lieferung von 100 Gebetbüchern und 200 Kippot das Kloster; zudem erhielten die religiösen Juden eine Spende von 2.000 Reichsmark.
Um den Mangel an rabbinischer Literatur zu beheben, regten die beiden Rabbiner Samuel Snieg und Samuel Rose schon 1945 den Nachdruck eines Talmudbandes an, da sie in der Klosterbibliothek einen unbeschädigten Band des Wilnaer Talmud entdeckt hatten. Mit Hilfe des Vaad Hatzala und des Joints gelang es, die nötigen Mittel für die fotomechanische Herstellung von 3.000 Exemplaren aufzubringen. Der Talmud wurde in der klostereigenen Druckerei erstellt und bis Dezember 1945 verteilt. Nach Ansicht von Peter Honigmann, langjähriger Leiter des Zentralarchivs zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, ist „der Talmud aus St. Ottilien wahrscheinlich der erste Druck eines hebräischen Buches in Deutschland nach dem Ende der Nazi-Barbarei“. Auch die Idee eines Gesamtnachdruckes der insgesamt 19 Bände umfassenden Talmud-Ausgabe geht auf die Rabbiner Snieg und Rose zurück. Für sie war die Neuauflage des Talmuds auf deutschem Boden – als Beispiel standhaften jüdischen Überlebenswillens – die richtige Antwort auf die Vernichtung von Menschen und Kultur. Doch es vergingen über zwei Jahre, bis das nötige Papier vorrätig war, die Vorlagen fertig gestellt und schließlich gedruckt und gebunden wurden. Im Jahre 1949 standen die ersten Exemplare der neunzehnbändigen Talmudausgabe für die jüdischen DPs bereit. Zu diesem Zeitpunkt hatten jedoch bereits viele Juden Deutschland verlassen. Nur wenige Exemplare verblieben daher im Land der Täter, die meisten Bände wurden an jüdische Institutionen und renommierte Bibliotheken in Israel, Europa, Kanada und den USA verteilt.
Quellen
Archive
- American Jewish Joint Distribution Committee Archives, New York
AR 45/54 Germany - YIVO Institute for Jewish Research, New York
Leo W. Schwarz Papers / Displaced Persons Centers and Camps in Germany
Literatur
- Esther Farbstein, Hidden in Thunder. Perspectives on Faith, Halachah and Leadership during the Holocaust, Jerusalem 2007
- Eli Fishman, On the Wings of Faith, Jerusalem 2016
- Herbert A. Friedman, Roots of the Future, Jerusalem 1999
- Alex Grobman, Rekindling the Flame. American Jewish Chaplains and the Survivors of European Jewry 1944-58, Detroit 1993
- Erika Gruber, Was ich am Ende des Krieges in St. Ottilien erlebt habe, in: Frumentius Renner (Hg.), Die Ottilianer Kloster in Europa seit dem II. Vatikanischen Konzil mit Rückblenden (Der fünfarmige Leuchter, Bd. 3, Beiträge zum Werden und Wirken der Benediktinerkongregation von St. Ottilien), St. Ottilien 1990
- Peter Honigmann, Talmuddrucke im Nachkriegsdeutschland, in: Fritz Bauer Institut (Hg.), Überlebt und unterwegs. Jüdische Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt/Main 1997
- Judah Nadich, Eisenhower and the Jews, New York 1953